Dai tuoi occhi solamente
von Diotallevi FrancescaNew York, 1954. Vivian antwortet auf eine Anzeige in der New York Herald Tribune. Sie hat kurze Haare, ein Kleid mit rundem Kragen, erste Falten um die Augen und ist achtundzwanzig Jahre alt. Es wurde ein Kindermädchen gesucht. Ein Job, der genau richtig für sie war. Familien hatten schon immer ihre Neugier erweckt. Es fasziniert sie, in ihre Welt einzutreten, Zuschauerin ihrer kleinen Dramen zu werden, ohne jedoch ein Teil davon zu sein. Und sie liebt es, die Pantomime des Lebens zu beobachten, gegen die nur Kinder immun zu sein scheinen. Die junge Mutter, die sie begrüßt, hat perfekt mit Lippenstift nachgezeichnete Lippen, die Haare sind in steifen Wellen gestylt, und sie trägt einen tadellosen Pullover. Doch hinter ihrer perfekten Kleidung erkennt Vivian einen Abgrund: das stumme Flehen einer Frau, die im Stillen um Hilfe zu bitten scheint. Nun, schließlich ist das ihr Job: sich um das Leben anderer zu kümmern. Die Zusage kommt schnell. Sie braucht nur wenig: ein Zimmer, in dem sie ihre Sachen verstauen kann und eine Stadt wie New York, wo sie beobachten kann, wie sich die Leben auf den Straßen kreuzen. Wo sie die unerträgliche Vergänglichkeit eines jeden Augenblicks genauer unter die Lupe nehmen kann: Hände, die sich umklammern, den Zorn einer Geste, die Zärtlichkeit in einem Blick. Und gleichzeitig unsichtbar sein, ganz allein im offenen Meer der Großstadt, einen Kinderwagen schiebend oder sich bückend, um den Saum eines Kinderstrumpfs zu richten. Die Gesten der anderen zu beobachten und sich davor zu hüten, bloß nicht von ihnen berührt zu werden: das ist seit langem ihre Existenz. Zu groß sind die Wunden, die ihr in der Kindheit zugefügt wurden, wann immer sich die Wucht einer Geste – ihrer Mutter Marie oder ihres Bruders Karl, der von einer ähnlichen Wut auf die Welt beseelt war – gegen sie richtete. Sobald sie allein ist in dem ihr zugewiesenen Zimmer, zieht Vivian die Vorhänge vom Fenster zurück, wirft einen Blick auf den schattigen, kahlen Innenhof in der sterbenden Spätsonne, holt ihre Rolleiflex-Kamera aus der Tasche und sucht nach dem richtigen Bildausschnitt, um ihr eigenes Spiegelbild in der Dunkelheit des Glases einzufangen. Es ist die einzige Geste, mit der Vivian Maier ihren wahren Platz in der Welt findet: Sie hält die Kamera vor ihren Bauch und stiehlt Momente, Orte und Geschichten, von denen die Menschen nicht wissen, dass sie sie erleben.
- Verlag Neri Pozza
- Erscheinungsjahr 2018
- Seitenanzahl 207
- ISBN 9788854518063
- Ausländische Rechte Alice Canosi (alice.canosi@neripozza.it), Renata Petruseva (renata@agenziamalatesta.com)
- Ausländische Rechte verkauft Slovacchia: Inaque
- Preise 16.50
Diotallevi Francesca
Francesca Diotallevi, Jahrgang 1985, hat Kulturwissenschaften studiert. Zu ihren Werken gehören Der Wind in meinem Herzen (Neri Pozza, 2016), Gewinner der Jugendsparte bei der zweiten Ausgabe des Premio Neri Pozza, und Dai tuoi occhi solamente (Neri Pozza, 2018), Kandidat für den Premio Strega und Gewinner der Jugendsparte des Premio Comisso, des Premio Manzoni und des Premio Mastronardi.