Spatriati

Claudia tritt an einem sonnigen Morgen in der Eingangshalle der Schule in Francescos Leben: Es ist wie ein Donnerschlag, die Geburt eines ganz neuen Begehrens, das vor allem ein Verlangen nach Leben ist. Claudia ist unerreichbar und selbstbewusst, extravagant. Francesco hingegen schüchtern, entflammt von erotischer Neugier, beherrscht von einem naiven Glauben, unsicher. Sie provoziert ihn: Weißt du eigentlich, dass deine Mutter und mein Vater ein Liebespaar waren? Aber in den Augen dieses sanftmütigen Jungen sieht sie den Funken des Andersseins, sie erkennt sich selbst. Für Claudia ist die Provinz zu eng, sie entflieht ihr, so schnell sie kann. Erst nach Mailand und dann nach Berlin, der europäischen Hauptstadt der Transgression. Francesco bleibt an Ort und Stelle und gräbt in sich hinein in einem zunehmend vehementen Versuch zu verstehen, wer er ist. Sie werden gemeinsam erwachsen, in einem symbiotischen Spiel aus Entfremdung und Verfolgung, bei dem sie sich immer wieder finden. Mario Desiati inszeniert die zahllosen Komplexitäten einer ungleichen, fließenden und entwurzelten Generation: seiner eigenen. Die Generation derjenigen, die heute in ihren Vierzigern sind und sich nicht scheuten, weit weg von zu Hause nach ihrem Platz in der Welt zu suchen, derjenigen, die sich wirklich als Bürger Europas fühlen. Nach Candore (Weißsein) kehrt Desiati mit einer poetischen, aber scharfen Schreibe, die zu großer Zärtlichkeit fähig ist, zurück, um von den unzähligen Formen zu erzählen, die das Begehren annehmen kann, wenn man ihm freien Lauf lässt. Desiati befragt den Sex und enthüllt ihn als das, was er ist: eine der vielen Haltungen, die der Mensch auf seiner Suche nach Glück erfindet. Ohne Angst, die Akkorde der Romantik zu berühren, ohne falsche Bescheidenheit, wenn er die gröbsten Details der Erotik, des Instinkts und des Fleisches untersucht.