Auf dem Weg nach Frankfurt 2024
Interview mit Johannes Ulrich, Gründer und Leiter des avant-verlags
Autor: Maria Carolina Foi, Leiterin des Italienischen Kulturinstituts in Berlin
Johann Ulrich hat 2001 in Berlin den avant-verlag gegründet und leitet ihn seither. avant-verlag publiziert Graphic Novels von deutschen und internationalen Autor*Innen und zudem eine Reihe mit Comic-Klassikern.
Wie würden Sie den avant-verlag den italienischen Lesern präsentieren?
Als ich 2001 mit 2 Büchern anfing, war es eine Ein-Mann-Firma. Inzwischen sind wir ein Verlag mit Angestellten und publizieren 24 Titel im Jahr: Comics und Graphic Novels aus aller Welt, auch aus comic-exotischen Ländern. Wir führen mehr italienische Autoren als andere Verlage im Programm. Und seit einigen Jahren steigt der Anteil der deutschen Autoren stetig, oder besser gesagt: der Autor*Innen, denn in Deutschland sind ungefähr 70% Prozent der Comic Debüts von Frauen. Das hat mit der Ausbildung an den deutschen Hochschulen zu tun, die sich mehr und mehr auch dem Comic widmen.
Gab es in Deutschland ein besonderes Interesse an Comics, als Sie den Verlag gründeten?
Eher das Gegenteil war der Fall. Seit frühester Kindheit habe ich immer Comics gelesen und gesammelt. Ich muss gestehen, die Hälfte, die ich über unseren Planeten weiß, habe ich in Comics gelernt (lacht). Um die 2000er Jahre gab es eine Publikationsdelle. Auf der Frankfurter Buchmesse 2000 war ich als Besucher bei einem Vortrag über neue Tendenzen im französischen Autorencomic. Es wurden mehr als 20 Zeichner vorgestellt. Aber keines dieser großartigen Talente war auf Deutsch veröffentlicht! Aus dieser Betroffenheit heraus habe ich beschlossen: „Dann mache ich das selbst!“ Und so fing das an, aus einer simplen Laune und der Enttäuschung über das langweilige Programm der bestehenden Verlage heraus. Auch mit einem gewissen Wagemut und daher vielleicht anfangs der Verlagsname, eine Mischung: die Franzosen machen Avant-garde draus, im italienischen ist es die Nähe zu Avanti.
Sie haben 2020 und 2021, den deutschen und den Berliner Verlagspreis 2022 bekommen. Was bedeuten solche Auszeichnungen?
Das bedeutet auch eine Anerkennung für das Medium generell. Es zeigt, dass Comics in Deutschland eine Emanzipation erfahren: in dem Ansehen von außen, sei es in der Kulturpolitik, sei es in den Medien. Wir werden inzwischen gleichberechtigt mit anderen Literaturformen gesehen – auch mit anderen Künsten, und davon waren wir vor 20 Jahren noch meilenweit entfernt. Es ist auch gelungen, zumindest in Berlin und in Hamburg, durchzusetzen, dass die Stipendien, die Bundesländer vergeben, an Maler, an Musiker, an Schriftsteller usw, inzwischen ganz selbstverständlich auf Comic Schaffende ausgedehnt wurden. In Bayern und Niedersachsen gibt es eine ähnliche Entwicklung. Zudem engagieren sich lokale Institutionen und Stiftungen.
Spielt ein bestimmtes Thema bei der Wahl eines Autors eine Rolle?
Bei der Wahl eines Titels eher als beim Autor. Es muss zu unserem Programm passen, was ich als sehr homogen empfinde. Wir haben Mitte der 2000er Jahre viele Biografien und Autobiografien veröffentlicht. Zudem haben wir Künstlerbiografien und viele historische Themen im Programm, sowie politische Themen, die sich mit dem hier und heute beschäftigen. Dazu kommen Literaturadaptionen. Mein persönliches Steckenpferd, das wir seit einigen Jahren etabliert haben, ist die Klassikerreihe. Es kommt jedes Halbjahr ein Comic-Klassiker heraus. So haben wir z. B. Eternauta erstmalig in deutscher Sprache verlegt.
Wie haben Sie Italien als Land der Comics entdeckt?
Jetzt komme ich ins Schwärmen. Schon unser allererstes Buch war von einem italienischen Autor: anita von Stefano Ricci gezeichnet, von Gabriella Giandelli geschrieben. Bei einem Besuch in Bologna und Mailand entdeckt man eine so überwältigende Bandbreite an großartigen Künstlern, dass man ganz sprachlos ist. Ich bewundere die italienischen Autoren aufgrund ihres Talents, aber auch, weil sie Geschichten erzählen, die wirklich literarisch aufregend sind! So weit sind wir in Deutschland noch nicht, und auch der Großteil der französischen Comics kann da nicht mithalten, wenn man sie z. B. mit einer Erzählung von Gipi oder Manuele Fior vergleicht. Wir sind sehr stolz, diese Ausnahmekünstler im avant-verlag zu präsentieren. Ich erwähne auch Paolo Bacilieri, Zerocalcare, Igort, Davide Reviati und in Kürze Sergio Ponchione. Ich hoffe, niemanden zu vergessen. Im hiesigen Buchhandel haben wir das Problem, dass wir die Bücher eher über das Thema verkaufen müssen als über die eigentliche inhaltliche Qualität, während in Italien mehr das Wie und das Emotionale in der Erzählung beachtet wird. Die Italiener sind fantastische Künstler. Einen Gipi oder Fior beim Zeichnen zuzusehen ist reine Magie!
Das ist ja die ganze Geschichte der italienischen Comics!
Das ist eine europäische Geschichte, die in Italien mit der Zeitschrift „Linus“, in den 60er Jahren anfing. Es ist unglaublich, dass es „Linus“ bis heute monatlich gibt. Ein solches Phänomen gibt es nirgendwo auf der Welt. „Linus“ war von Anfang an für erwachsene Leser konzipiert. Das gab es vorher gar nicht! Der Großteil der Comics kam aus amerikanischen Zeitungsstrips, trotzdem konnte ein junger Guido Crepax, seine ersten Seiten dort publizieren. Zum ersten Mal gab es ein Comicmagazin für eine intellektuelle Leserschaft und hinzu kam das erste Comicfestival, vor allen anderen Ländern in der Welt. Also Italien war damals die Speerspitze, welche den modernen Comic in den 60er, 70er Jahren erst möglich gemacht hat. Ich möchte es noch einmal betonen: Die Innovation kam aus Italien!
Gibt es heute inzwischen für italienische Verleger interessante deutsche Comic AutorInnen?
Es hat sich wirklich viel getan – ein kurzer historischer Rückblick: in Deutschland gab es durch das Dritte Reich, keine Comics für lange Zeit. Und nach dem Krieg gab es zunächst kein Geld für solche Freizeitprodukte. Dann hat das Bildungsbürgertum bis in die 70er Jahre hinein abfällig über Comics geurteilt. Die Deutschen konnten also 40 Jahre keine Comics lesen. Die Rezeptionsgeschichte ist dadurch nicht mit der Italiens zu vergleichen. Dass heute ständig neue Talente auftauchen, hat damit zu tun, dass man Bilderzählung an den Hochschulen studieren kann. U. a. Anke Feuchtenberger und Henning Wagenbreth gehören einer Generation von Zeichnern an, die seit einigen Jahren in der Lehre als Professoren einen zweiten Beruf ausüben. Jedes Jahr treten etliche Studenten mit fertigen Büchern an mich heran und manchmal führt das zur Publikation. Im avant-verlag erscheinen die sehr erfolgreichen Bücher von Birgit Weyhe und Katharina Greve, die aber beide in Italien beide noch unbekannt sind. All das zeigt noch einmal, dass der deutsche Comic eine sehr spannende feminine Komponente entwickelt. Es sind andere Comics als die meiner Jugend. Sie behandeln andere Themen und werden auch anders erzählt.
Sie haben 2023 gerade Fiors Hypericum auf Deutsch publiziert, das die deutschen Kritiker gefeiert haben.
Ja, Manuele Fior erzählt vom Berlin der 90er Jahre, die Zeit in der ich nach Berlin kam und ich habe einen sehr starken persönlichen Bezug zu den Schauplätzen und das Lebensgefühl damals, weshalb mir das Buch besonders gut gefällt. Manuele und ich haben uns bereits vor 20 Jahren kennengelernt, als er noch in Berlin lebte. Insofern hat der avant-verlag das Privilig der erste Verlag zu sein der Manuele Fior veröffentlich hat! Erst danach kamen Italien und Frankreich. Eine Anekdote aus der Verlagshistorie auf die ich stolz bin.