Interview mit Maddalena
Vaglio-Tanet, Literaturscout
Autor: Paolo Grossi
Maddalena Vaglio-Tanet ist dem Lesepublikum allem voran als Schriftstellerin bekannt. Zu ihren Publikationen zählen Il cavolo di Troia e altri miti sbagliati (Rizzoli 2020, Finalist für den Preis Strega Ragazzi 2021 als bester Debütroman) und der Roman In den Wald (Marsilio), 2023 nominiert für den Premio Strega. Seit einigen Jahren ist sie aber auch als Literaturscout tätig und über diese Tätigkeit sprechen wir in unserem Interview.
Wie sind Sie dazu gekommen, als Scout zu arbeiten? Können Sie uns etwas über Ihre Arbeit erzählen (Ihre Beziehungen zu Agenten, Redakteuren, Autoren usw.)?
Alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind auch begeisterte und besessene Leser. Ich wollte schon immer schreiben und lesen. Als Kind dachte ich, es wäre schön, beruflich Romane zu lesen, aber ich hätte nie gedacht, dass dies ein Beruf sein könnte. Erst viel später habe ich herausgefunden, dass ich da falsch lag. Nach dem Abitur studierte ich Italienisch und Vergleichende Literaturwissenschaft; zunächst an der Universität Pisa und der Scuola Normale Superiore, dann für den Ph.D. an der Columbia University in New York. Bereits während meines Studiums begann ich, einige Erfahrungen in der Verlagswelt zu sammeln: ein Praktikum bei Nottetempo, dann wieder Lesen (also das Sortieren unveröffentlichter Manuskripte) für Nottetempo und für den amerikanischen Verlag New Vessel Press. Anschließend ein Projekt über Montale für Jonathan Galassi, Autor und ehemaliger Redaktionsleiter von Farrar Straus & Giroux. Es erschien mir sehr schwer, akademische Forschung und kreatives Schreiben zu vereinbaren. Dagegen hatte ich den Eindruck, dass das Schreiben besser mit dem Verlagswesen vereinbar sei, weil die beiden Jobs sehr unterschiedlichen Zeitabläufen und Rhythmen unterliegen: verlegerisches Arbeiten ist auf Schnelligkeit ausgelegt, schreiben ist ein langsamer Vorgang. Mich interessierte es auch die Funktionsweise des Verlagswesens von innen heraus zu verstehen, um die richtige Erwartungshaltung als Autor haben zu können und mir der Mechanismen, Zusammenhänge und Erwartungen der Editoren (Personen, die im Verlagswesen arbeiten) sowie der Leser bewusst zu sein. Nach meiner Promotion schickte ich zwecks Orientierung und zum Erhalt von Tipps einige E-Mails an Fachleute aus der Verlagswelt. Viele haben nicht geantwortet. Cristina De Stefano, ein Scout für Literatur aus dem Französischen ins Italienische mit Vorstößen ins Spanische und Deutsche, reagierte sofort. Wir trafen uns in Paris, wo ich gerade aus anderen Gründen war, und ich begann sofort, einige Probereports (Lesenotizen) zu schreiben. Ein Scout liest Bücher in bestimmten Sprachen (wobei er wirklich alles im Blick hat, was veröffentlicht wird) und berät seine Kunden, ob es für sie empfehlenswert ist, ausländische Übersetzungsrechte zu erwerben oder nicht. Entsprechend wichtig war es, dass ich neben Italienisch schnell auf Französisch und Deutsch lesen konnte und mein Englisch sehr gut war. Denn alle Lesenotizen eines Scouts, da sie an viele Kunden in verschiedenen Ländern verschickt werden, sind auf Englisch verfasst. Der Beruf des Scouts ist außerhalb des Verlagswesens wenig bekannt. Daher musste ich selbst erst einmal genau verstehen, was von mir verlangt wird. Wenn ich für einen Verlag las, musste ich ein Buch bezüglich seiner Druckeignung für diesen bestimmten Verlag bewerten. Als Scout hat man jedoch viele Kunden, die Verlage verschiedener Sprachen sind (niemals zwei Verlage, die im gleichen Land/der gleichen Sprache veröffentlichen, sonst würden sie miteinander konkurrieren). Bei einigen handelt es sich um Verlagsgruppen, die Dutzende verschiedener Verlage (Verleger derselben Gruppe) umfassen. Es ist wichtig, alle Editoren zu kennen, die im Ausland Einkäufe tätigen, und zu lernen, ihren Geschmack und ihre Linie zu antizipieren. Es braucht auch einige Zeit, um zu verstehen, was in einem bestimmten Land erworben wurde und gut lief (zum Beispiel Paolo Cognetti in Deutschland oder den Niederlanden) oder aber nicht funktionierte. Wir erhalten von allen Agenten und Verlagen eines Territoriums (einer Sprache) die Bücher im PDF-Format. Wir lesen alles und versenden dann unsere Lesenotizen an die Kunden. Nehmen wir also an, wir senden den Report über ein von uns gelesenes italienisches Buch an den spanischen, französischen, türkischen, chinesischen, amerikanischen, britischen, portugiesischen, litauischen usw. Verlag, für den wir arbeiten. Der nächste Schritt wäre dann, dass dieser entscheidet, uns ein Kaufangebot für die Rechte an der Übersetzung dieses Buches zu unterbreiten. Seit kurzem arbeiten wir auch mit dem Film und Plattformen bezüglich der Umarbeitung von Büchern für Filme oder Fernsehserien zusammen. Kurzum: Wenn wir in der Buchhandlung ausländische Bücher finden oder einen Film schauen, war oft auch ein Scout in der für die Übersetzung und Verfilmung zuständigen Kette zugegen.
Gibt es unter Ihren „Entdeckungen“ als Literaturscout welche, die für Sie besonders wichtig waren?
Ich habe noch vor dem Editing Ein Zug voller Hoffnung von Viola Ardone als Entwurf gelesen und meinen Kollegen und mir war sofort klar, dass dieser Text für das Ausland geeignet wäre. Unmittelbar danach wurde der Roman auf der Frankfurter Messe in mehr als 20 Ländern verkauft (jetzt sind wir bei mehr als 30). Das gleiche gilt für Malnata von Beatrice Salvioni, einem in Italien und im Ausland sehr erfolgreichen Debütroman, dessen Effizienz uns sofort auffiel und der von mehreren Kunden gekauft wurde. Vergangenes Jahr habe ich Trauriger Tiger von Neige Sinno gelesen, ein Buch mit einem sogenannten „schwierigen Thema“: einer Geschichte über sexuellen Missbrauch in der Familie. Es ist ein außergewöhnlicher Text voller Intelligenz und Wut, den wir sehr entschlossen unterstützt haben. Ich freue mich, dass er die Anerkennung erhalten hat, die er verdient (einschließlich des Prix Fémina und des Strega Europeo) und dass sich viele Verlage im Übersetzungsbereich darum beworben haben. Ich schließe diese Ausführung mit zwei Büchern, die ich geliebt habe, die den Weg ins Ausland gefunden haben und die den jeweiligen Autoren Anerkennung gebracht haben: Die Fremde von Claudia Durastanti und Die Perfektionen von Vincenzo Latronico.
Welche Einschätzung des italienischen Verlagssystems bezüglich einer europäischen Perspektive können Sie aufgrund Ihrer internationalen Kenntnisse der Buchwelt geben?
In der italienischen Verlagswelt gibt es Menschen mit außergewöhnlicher Kompetenz. Große Phänomene ähneln sich überall. Fakt ist, dass immer mehr Titel veröffentlicht werden – zu viele. Der große Erfolg von Fantasy, Romantasy (eine Kombination aus Romantik und Fantasy) und Dark Romance (intensive, teils toxische und gewalttätige Liebesgeschichten) im YA-Bereich (Bücher für junge Erwachsene). Der Anstieg von Comics und vor allem Mangas. Die Stärke der weiblichen Leser, die immer stärker vertreten sind als die männlichen Leser. Der stabile Erfolg von Büchern, die ein gutes, einladendes und beruhigendes Gefühl vermitteln (die sogenannten Feel-Good- oder Uplifting Novels, die auch Komödie und Mysterium oder Romantik und Mysterium vermischen können, wie bei Cozy-Krimis). Der Erfolg der sogenannten Upmarket-Bücher, also Büchern für mittelstarke Leser, die einen sehr sorgfältigem Schreibstil, aber auch eine fesselnde Handlung oder ein spannende Thema und hervorragendes kommerzielles Potenzial haben. Ich werde zur Verdeutlichung einige Beispiele nennen, wobei man stets im Hinterkopf behalten muss, dass Genres und Register keine wasserdichten Optionen sind und kommerzieller Erfolg kein Beweis für schlechte Literatur ist: Valérie Perrin und Matteo Bussola schreiben Upmarket-Bücher, die sowohl Leser ernster wie auch unterhaltender Literatur gefallen. Michele Mari, Viola Di Grado und Emanuele Trevi sind literarische Autoren mit einem erkennbaren und unnachahmlichen Stil sowie einer gewissen Poetik. Felicia Kingsley hingegen ist ein Beispiel für eine sehr gute kommerzielle Autorin. Was die Arbeitsbedingungen anbelangt, sind Arbeitnehmer im italienischen Verlagswesen häufig prekärer und verdienen weniger als ihre Kollegen in anderen Ländern (dies gilt jedoch nicht nur für das Verlagswesen). Im Verlagswesen gibt es viele Frauen und insbesondere viele junge Frauen, viel mehr als in anderen Bereichen. Das ist gut, denn normalerweise wollen Leute, die im Verlagswesen arbeiten, auch genau das machen – nämlich sich mit Büchern befassen. Oftmals verfügen die dort Beschäftigten über eine gezielte Ausbildung und finden ihre Berufung. Wir sind alle Bibliophile. Dies setzt uns jedoch auch der Gefahr aus, unfaire Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Und Frauen tun dies tendenziell häufiger, da das Problem der Lohnungleichheit in der Arbeitswelt immer noch besteht. Denn in einer Familie sind sie in der Regel ohnehin nicht die Arbeitnehmer mit dem höheren Gehalt. Damit will ich sagen, dass sie daran gewöhnt sind. Ich fürchte, es handelt sich um einen Fall, in dem ein Teufelskreis aus wirtschaftlicher Fragilität auf einen positiven Kreislauf aus Leidenschaft und Fähigkeiten trifft. In Italien mehr als anderswo.
Der Erfolg eines Schriftstellers in seinem Heimatland schlägt sich nicht sofort in einem Erfolg im Ausland nieder. Welcher „Typ“ von Schriftsteller verkauft sich im Ausland gut? Derjenige, der stärker von seiner nationalen Herkunft geprägt ist (also der „italienischere“) oder der internationalere?
Es gibt immer Ausnahmen. Allerdings funktionieren in der Regel Bücher, die stark geografisch und sozial konnotiert sind und bei denen das Italienertum entsprechend der Vorstellung präsent ist, die man davon im Ausland hat (Neapel, die Berge, eine Küstenstadt, eine Kleinstadt mit geschlossener Mentalität, Rom, vielleicht Mailand, usw.), jedoch in einer Sprache verfasst, die übersetzt werden kann, ohne den Charakter des Autors zu verlieren. Deshalb: wenig Dialekt und wenige Regionalismen (bis auf vereinzelte Anspielungen), ein aus syntaktischer Sicht einfacher Satz, der jedoch durch einprägsame Gleichnisse und Metaphern aufgehellt wird. Hilfreich sind auch ein kurzer Prolog, der die Aufmerksamkeit fesselt, ein Ich-Erzähler oder zumindest ein starker Protagonist, eine Romanstruktur, die nicht zu verwickelt ist, eine Metaliterarität, die nicht zu extravagant ist (ein Buch, das unabhängig von der Identifikation des Lesers funktioniert, mit literarischen Referenzen, die im Ausland vielleicht weniger bekannt sind) und schließlich eine nicht zu aufdringliche Präsenz nationaler kultureller Referenzen, die im Text nicht erläutert werden (Musik, Fernsehen, Nachrichtenereignisse usw.). Elena Ferrante ist das perfekte Beispiel einer anspruchsvollen Literaturautorin, die jedoch immer einen poetischen Kontrast zwischen der Umgebung, über die sie schreibt (Neapel: eine Stadt mit barocker und expressionistischer literarischer Tradition) und einer sauberen, klaren, fast eisigen Sprache erzeugt hat (insbesondere in ihren ersten Romanen, in denen ihre Protagonisten sich bewusst vom Dialekt und dem Neapolitanismus distanzierten und dies explizit thematisiert wurde). Es handelt sich hierbei sicherlich nicht um einen gewollten, einstudierten Effekt, und in der Poetik der Autorin macht er tatsächlich Sinn, aber das Ergebnis ist, dass Ferrantes Romane sehr gut übersetzbar sind. Bei der Übersetzung verliert die Sprache ihre Eigenheiten nicht. Auch das hat zum Erfolg beigetragen. Generell wird Italien mit einer gewissen Exotik behandelt. Das heißt: Wenn ich ein italienisches Buch kaufe, möchte ich, dass es eindeutig italienisch ist und dies auch für ausländische Leser erkennbar ist. Ich möchte also die Landschaft, das Essen, eine Lebensart usw. spüren. Wie es uns bei fast allen anderen Traditionen (zum Beispiel der japanischen oder der südamerikanischen) geht, außer der angelsächsischen. Die angelsächsische Tradition ist zum Nullgrad geworden, zur universalen Berufung, daher auch, selbst wenn gewünscht, nicht konnotiert. Ein Roman von Sally Rooney ist nahezu gänzlich frei von geographisch-kultureller Charakterisierung. Es sind keine jungen Iren, sondern normale Iren. Es sind normale Menschen.
Achten Sie besonders auf Literaturpreise für unveröffentlichte Werke (wie den Calvino-Preis in Italien) oder auf Festivals für Erstlingsromane (Laval, Chambéry, Cuneo, usw.)?
Diese haben auf jeden Fall einen hohen Stellenwert, genauso wie Schreibschulen (sehr bemerkenswert fand ich kürzlich den Debütroman von Marta Lamalfa, L’isola dove volano le femmine, an dem sie mit der Bottega di Narrazione zusammengearbeitet hatte). Allerdings arbeiten wir als Scouts dabei unter dem Gesichtspunkt der ausländischen Übersetzungen oder Verfilmungen. Mit einigen Ausnahmen suchen wir nicht nach unveröffentlichten Werken in der Sprache, in der sie verfasst sind. Für diesen Schritt gibt es Agenten und Herausgeber. So erhalten wir in der Regel Texte, die bereits einen Agenten oder einen Verlag haben kurz gesagt, die sich in der Veröffentlichung befinden.
Wenn das Lesen zu einer beruflichen Tätigkeit wird, wie viel Zeit bleibt dann noch für das freie Vergnügen des Lesens und/oder Wiederlesens?
Die Zeit zum Lesen bleibt. Ich lese viel, immer. Ich lese sogar mehr als früher. Beruflich lese ich schnell und sehr konzentriert. Es kommt vor, dass ein Buch, das mir sehr gefällt, für ausländische Kunden ungeeignet ist und ich dies auf der Lesenotiz vermerken muss. Für eben diese Kunden muss ich jedoch nach Büchern suchen. Es kommt auch vor, dass ein Buch, das ich als Leser nicht kaufen würde, im Ausland voller kommerziellem Potenzial steckt. Dann ist es natürlich wunderbar, wenn alle Sterne unter einem guten Himmel stehen und ein geliebtes Buch ein Erfolg wird, wie Trauriger Tiger. Ich lese gerne Bücher aus Sprachen, die ich nicht beruflich lese. Nicht-zeitgenössische Bücher. Übersetzungen aus dem Russischen, Hebräischen, Koreanischen (ich freue mich sehr über den Nobelpreis für Han Kang, einen hervorragenden Autor, den ich wärmstens empfehle), aus skandinavischen Sprachen … Ich lese viele Gedichte. Ich lese auf Englisch (eine Sprache, die wir als Scouts nicht abdecken). Ich lese, um zu schreiben. Ich lese in einem anderen Tempo: langsam, unregelmäßig oder fragmentarisch. Ich lese, um Literatur zu studieren. Ich lese meinem Sohn und meiner Tochter vor. Ich höre Hörbücher, während ich koche, einkaufe, reise, die Kleidung aufhänge oder das Haus putze. Der Fluss des Geschichtenerzählens in meinem Kopf hört fast nie auf.