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12 Dezember 2023

Ein historischer Rückblick auf Italienstudien in Japan

Autor: Giovanni Desantis

Ein historischer Rückblick auf Italienstudien in Japan

Anfang des Jahres ist das Buch La civiltà italiana in Giappone: un bilancio storico degli studi italiani in Giappone (Itaria no bunka to Nihon: Nihon ni okeru Itariagaku no rekishi) erschienen, das von Giovanni Desantis und Hideyuki Doi herausgegeben und vom Italienischen Kulturinstitut in Osaka und dem Shoraisha-Verlag, Osaka-Kyoto veröffentlicht wurde. Exklusiv für newitalianbooks erläutern die Autoren den Inhalt des Werks in Form eines Dialogs – der erste ist Direktor des Italienischen Kulturinstituts in Osaka, der zweite Professor für italienische Literatur an der Universität Tokio.

 

 

Hideyuki, warum lohnt es sich die Geschichte der italienischen Kultur in Japan von der Meiji-Ära bis heute nachzuverfolgen?

 

Bekanntlich bedeutete die so genannte Meiji-Restauration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nicht nur chronologisch, sondern auch von der historischen Bedeutung her dem italienischen Risorgimento entspricht, eine radikale Umgestaltung der jahrhundertealten feudalen Gesellschaft Japans. Um eine rasche Modernisierung zu erreichen, befasste sich die Iwakura-Mission auf ihren Reisen zwischen 1871 und 1873 mit europäischen Vorbildern, die in erster Linie England, Frankreich, Deutschland, die Vereinigten Staaten und erst in zweiter Linie Italien waren. Aber diese Sichtweise der frühen Meiji-Zeit war eine historisch begrenzte Sicht auf die westliche Zivilisation. Wir, die wir dieses Buch verfasst haben, wissen, dass der italienische Beitrag keineswegs marginal, sondern für Japan auf seinem Weg in die Moderne von grundlegender Bedeutung war. Vor diesem Buch gab es keine objektiv dokumentierte Studie zu diesen Themen. Sie, Herr Desantis, ein profunder Kenner der japanischen Universität von heute und früher, haben diese Wissenslücke gesehen. Sie wussten auch, dass die japanischen Italianisten ein großes Bedürfnis daran hatten, den kulturellen Einfluss Italiens auf Japan zu dokumentieren, weshalb Sie mich und die anderen Mitautoren in die Verwirklichung des Plans einbezogen haben.

 

Wie sehen Sie im Hinblick auf dieses neue Buch, die kritischen und dialektischen Bemühungen der japanischen Intellektuellen der Auseinandersetzung mit einer komplexen und einzigartigen europäischen Zivilisation wie der italienischen?

 

Nehmen wir als Beispiel Dante, dessen Rezeption im ersten Kapitel von dem Dante-Forscher Motoaki Hara behandelt wird. Ab 1880 begann der Name Dantes unter „progressiven“ Anglikanern zu kursieren: Für sie war er ein „Held“ wie Shakespeare, ein Autor, den man studieren musste, um die europäische Zivilisation zu verstehen. Fast zur gleichen Zeit betrachteten der evangelisch-christliche Intellektuelle Kanzō Uchimura und seine Anhänger Dante als einen „Großen“ und die Göttliche Komödie als das Meisterwerk der christlichen Literatur. Diese Denkweise enthielt ein antiimperialistisches oder antinationales Element, das der Grund für ihre Verfolgung durch die Regierung und die Universität war. Später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, brachten die ersten wahren Italianisten 1916 die erste vollständige italienische Übersetzung der drei Cantiche heraus (zuvor waren die Gesänge aus dem Englischen oder Deutschen übersetzt worden) und erfüllten damit die Erwartungen der „aufgeklärten“ gebildeten Öffentlichkeit, die eine getreue Version von Dantes epischem Gedichts wünschte. Noch heute kreisen drei Bereiche um Dante und die Commedia: die „Komparatisten“, die Weltliteratur analysieren; diejenigen, die sie in einem spezifischen Kontext wie dem christlichen Kontext lesen; und schließlich Italianisten wie wir. Wie dem auch sei, das japanische Publikum hat Dante schon immer gelesen. Heute gibt es nicht weniger als sechzehn Übersetzungen der Göttlichen Komödie, von denen die letzte 2014 von Motoaki Hara herausgegeben wurde. Man kann Dante als Teil dieser drei Studienbereiche sehen, aber er spricht auch jeden einzelnen Leser an: Wie der verstorbene Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe einmal sagte, ist Dante ebenso kosmisch wie persönlich.

 

Welche und wie viele Eindrücke, Lektüren oder Interpretationen Italiens ergeben sich aus der japanischen Haltung gegenüber dem italienischen kulturellen und historischen Erbe?

 

Viele und vielschichtige. Auch hier nenne ich nur ein Beispiel unter vielen aus dem Buch. Mein Kollege Francesco Campagnola veranschaulicht im sechsten Kapitel „Von der Idee der Renaissance zu Vicos Historismus“ einige umstrittene Interpretationen unter japanischen Kritikern und Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts. Für sie war es in den entscheidenden 30er Jahren von grundlegender Bedeutung, die Humanisten, insbesondere die kontroversen Machiavelli und Vico, kennenzulernen, und zwar in einer Zeit, von der man glaubte, dass es unter dem militaristischen Regime keine „liberalen“ Intellektuellen in Japan mehr gab: Stattdessen bereiteten sich einige insbesondere durch das Studium italienischer Texte mehr oder weniger gezielt auf den radikalen Wandel nach dem Krieg vor. Universitätsstudenten lasen, bevor sie an die Front gerufen wurden, leidenschaftlich Gorō Hanis Lehrbuch über Benedetto Croce, wie mein Kollege Kōsuke Kunishi in seinem Kapitel aufzeigen konnte.

 

Literatur und Kunstgeschichte Italiens, aber nicht nur. Auch Bereiche wie Philosophie, Musik, Theater und Kino üben Einflüsse aus und führen zu Überschneidungen und Vermischungen zwischen den beiden Kulturen. 

 

Das Buch ist in die drei Bereiche Literatur, Philosophie und Kunst (Musik, Kino, Theater) unterteilt und hält in den letzten Kapiteln weitere Überraschungen bereit. Das neunte Kapitel über Musik, verfasst von dem Musikwissenschaftler Manabu Morita, erinnert uns daran, dass die italienische Musik nicht so sehr als schöngeistiges Vergnügen geschätzt wurde, sondern vielmehr als unverzichtbarer Bestandteil bei der Festlegung der Lehrpläne. Wie bei die Musik war bei der Einführung der italienischen Kunst auch die politische Funktion entscheidend, schreibt Motoaki Ishii, abgesehen von dem einzigen Ausnahmefall Yukio Yashiro, der 1925 den ersten Korpus der Werke Botticellis zusammenstellte. Wenn wir also von Überschneidungen und Vermischungen sprechen wollen, dann lässt sich der große Erfolg des italienischen neorealistischen Kinos in Japan mit dem Zustand des physischen und moralischen Elends erklären, in dem sich Japan zu dieser Zeit befand, so wie Satoko Ishida es uns darlegt. Das Buch hebt auch die Figur von Giuliana Stramigioli hervor, die neorealistische Filme nach Japan importierte und dabei mitwirkte, Akira Kurosawas Rashomon auf dem Filmfestival von Venedig 1951 zu zeigen. Die gegenseitige Wertschätzung zwischen den beiden Ländern in der unmittelbaren Nachkriegszeit führte zu einer neuen Art von Beziehung, die sich von den Allianzen der vorangegangenen Jahre unterschied.

 

Lässt sich insgesamt sagen, welche innovativen Ansätze die Essays der verschiedenen Kapitel dieses Buches enthält?

 

Ich denke, dass jedes Kapitel für sich dem Forschungsgebiet der geisteswissenschaftlichen Studien in Japan viele Neuheiten und Entdeckungen bietet, aber – wenn ich einen Aspekt besonders erwähnen soll – dann stellt der philosophischen Teil eine noch nie dagewesene Neuheit im Panorama der bisherigen Studien dar. Ein Beispiel für alle: Der Abschnitt beginnt mit einem überraschenden thomistischen Aufsatz aus dem Kontext der Post-Kyoto-Schule von Hoshino Hitoshi.

 

Welchen Beitrag kann La civiltà italiana in Giappone Ihrer Meinung nach zur Entwicklung der Italienstudien in Japan leisten?

 

Mit dem Erscheinen des Buches wird endlich die historische Präsenz der Italianistik in Japan anerkannt. Auch wir, die japanischen Italianisten, können auf eine Geschichte zurückblicken, die sich mittlerweile auf vier oder fünf Generationen erstreckt. Das Buch zeigt im Wesentlichen den Aufbau dieses Studienbereichs und würdigt originelle Beiträge japanischer Wissenschaftler, die die italienische Kultur erforscht haben. Es ist unsere Aufgabe, dieses wertvolle Erbe an den japanischen Universitäten zu bewahren und den von unseren Vorgängern eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Das Erscheinen dieses Buches wird dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit die künftigen Studien auf diesem Gebiet mit dem erforderlichen Respekt betrachtet.

 

Hat die Italianistik in Japan eine Zukunft?

 

Wenn wir uns das vierte Kapitel von Aya Yamasaki, Il mondo descritto con le parole delle donne, ansehen, fällt uns sofort auf, dass die italienische Literatur im aktuellen Rahmen der Geschichte der Frauenemanzipation ein breites Spektrum an Analysen und Vergleichen bietet. Unsere Studentinnen und Studenten lesen dieses Kapitel, das ein vielversprechendes Studienfeld eröffnet, sehr gerne. Das Studium der italienischen Klassiker hat sicherlich eine Zukunft: Wie Yōsuke Shimoda schreibt, wurden in den letzten Jahren in Japan zahlreiche Leopardi-Studien durchgeführt. Schließlich hat Kazufumi Takada, der das Kapitel über das Theater geschrieben hat, mit Ihrer Hilfe die erste japanische Übersetzung der wichtigsten Komödien von Dario Fo veröffentlicht, ein Buch, das dazu beiträgt, das Wissen über Italien in unserem Land zu erweitern. Um auf unseren gemeinsamen Band zurückzukommen: Er ist eine Voraussetzung für ein weiteres Aufblühen der italienischen Studien. Ich würde eine italienische Übersetzung sehr begrüßen, denn diese könnte zu einem besseren Verständnis der japanischen Kulturgeschichte in der gebildeten italienischen Öffentlichkeit beitragen.

 

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