Interview mit Piero Salabè,
Lektor für ausländische Belletristik
beim Hanser Verlag
Autor: Maddalena Fingerle
Piero Salabè (1970) ist Übersetzer, Lektor, Herausgeber und Autor. Er studierte in Venedig, London, Rom und München, arbeitete beim Antje Kunstmann Verlag und beim Hueber Verlag und ist seit 2008 Lektor für internationale Literatur beim Hanser Verlag.
Wann und wie haben Sie angefangen, im Verlagswesen zu arbeiten?
Ich habe 1996 mit einem Praktikum bei einem Literaturverlag angefangen. Dann, nach der Doktorarbeit und weiteren Verlagserfahrungen, begann ich für den Hanser Verlag Lektüreberichte zu schreiben. Dabei geht es darum, den literarischen Wert der Werke zu betrachten: Was hat sich der Autor vorgenommen, wie gelingt es ihm, seine Absicht umzusetzen, kann es für das deutsche Publikum interessant sein? Meine Berichte waren sehr ausführlich und ziemlich kritisch, ich vermute, dass sie mir so zu meinem Arbeitsplatz verholfen haben.
Wie sieht Ihr typischer Tag aus?
Er beginnt mit dem Lesen, er endet mit dem Lesen. Man muss sich einen Raum für die Literatur schaffen, sonst kommt es bei all der Korrespondenz und den Sitzungen dazu, dass man die Qualität eines Textes nicht mehr klar erkennt. Fehlende Qualitäten springen leichter ins Auge: Ein Text, in dem die Sprache nicht überzeugt, der Gemeinplätze enthält, lässt sich schneller beurteilen als einer, an dem man eine gewisse literarische Ausarbeitung schätzt, auch wenn man sich dann nicht für eine Übersetzung entscheidet. Der Arbeitstag beginnt um neun, häufig mit der Lektüre von Texten, über die bei Verlagssitzungen – zweimal in der Woche – entschieden werden soll. Es kommt vor, dass man sich Texte mit nach Hause nimmt, um sie abends in Ruhe zu lesen. Ein wertvolles Buch zu entdecken, ist ein schönes Gefühl, denn das passiert eher selten. Von Claudia Durastanti hatte ich zum Beispiel Cleopatra va in prigione gelesen, das mir sehr gefallen hatte, aber es war dann Die Fremde, die ich für das richtige Buch für das Deutschlanddebüt hielt. Bevor man eine Entscheidung trifft, teilt man die Eindrücke mit externen Lesern.
Hat sich Ihr Blick auf die Literatur im Laufe der Jahre verändert? Wenn ja, wie?
Er hat sich nicht verändert. Die Moden ändern sich, aber das ästhetische Urteil nicht. Ein guter Text ist ein guter Text ist ein guter Text … frei nach Gertrude Stein. Die gute Lektüre – also eigentlich die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, vom Leben mit Hilfe der Fiktion zu berichten – hat sich seit den Anfängen der Menschheit, seit der Zeit des Gilgamesch-Epos nicht verändert. Ich bin überzeugt, dass die guten Bücher bleiben, die minderwertigen verflüchtigen sich. Man muss kritisch und konstruktiv sein, aber ohne Ansprüche unterstützt man nur den Lärm.
Lesen Sie auch zum Vergnügen?
Vor allem. Sicher ist das berufliche Lesen nicht immer angenehm. Tatsache ist, dass man manchmal viel Zeit aufwendet, um etwas zu bestätigen, das man von Anfang an geahnt hat. Es ist eine ähnliche Situation wie im Kino, wenn uns der Film nicht gefällt: Wir bleiben aus Respekt für unsere Begleitung im Saal, aber eigentlich fühlen wir uns sozusagen gekidnappt.
Welche Autorinnen und Autoren haben Sie geprägt?
Alle Klassiker der Literaturen aller Zeiten. In Bezug auf das 20. Jahrhundert hat jede Literatur große Namen, wenn sie auch manchmal weniger bekannt sind. Ich denke an den Mexikaner Rulfo, den Esten Jaan Kross, der Serbokroaten Ivo Andric. Das sind unvergängliche Stilmodelle. Man braucht nur eine Seite zu öffnen, um zu fühlen, wie viel Arbeit hinter jedem Satz steckt. Ich meine nicht die Mühsal, sondern Arbeit, jene Schlichtheit und Essentialität, die eingebildeten oder naiven Schriftstellern fehlt. Es ist wie bei Schauspielern: Natürlichkeit ist das Ergebnis von viel Arbeit. Jeder wahre Schriftsteller hat seine Sprache: Bei Rulfo scheint die Prägnanz nicht zu überbieten zu sein und lässt einen darüber nachdenken, dass die meisten Bücher kürzer sein könnten. Bei Jaan Kross oder selbst Andric fasziniert die Fähigkeit, Weltgeschichte im Leben der Einzelpersonen zu spiegeln. Diesen Ehrgeiz haben viele Schriftsteller, aber die wenigsten schaffen es. Schließlich hat eine Schriftstellerin wie Marguerite Duras einen sehr markanten Schreibstil, der viele inspiriert hat. Es gibt keinen guten Schriftsteller, der nicht anerkennt, was er anderen Autoren und Autorinnen verdankt.
Bei welchen sind Sie besonders froh, sie veröffentlicht zu haben? Warum?
Ich kann keine Vorlieben formulieren. Ich freue mich sehr, wenn ich einen wertvollen Autor oder eine wertvolle Autorin entdecke und das Werk öffentlich machen kann, also seine oder ihre Kreativität durch unsere Publikation unterstützen kann.
Welche Eigenschaften muss ein Buch haben, um Sie zu überzeugen?
Sprechen wir über Prosa, Lyrik, Sachbuch? Jedes Genre hat seine eigenen Regeln. In jedem Fall ist sprachliche Sorgfalt ein klares Zeichen für Talent, und das gilt auch für Sachbücher. Sprachliche Schlamperei dagegen lässt sich selten mit einem wirklich wertvollen Werk vereinen. Ein Buch, das aus einem Drang entsteht und eine angemessene Sprache findet, um diesen auszudrücken, hat die richtigen Voraussetzungen, um die Leserschaft zu überzeugen.
Gibt es Bücher, die der Verlag gekauft hat, die Sie aber nicht überzeugt haben?
Der Herausgabeprozess – oder moderner Editing genannt – enthüllt die Schwachstellen von bestimmten Texten, die beim ersten Lesen nicht entdeckt wurden. Es kann also passieren, dass ein Text beim genaueren Überarbeiten weniger überzeugt. Dann gibt es Texte, die man wegen der Autorenpolitik veröffentlicht, die vielleicht nicht besonders glänzend sind, die man aber veröffentlichen muss, um den Autor oder die Autorin auf ihrem kreativen Weg zu unterstützen.
Gibt es ein Thema, das in deutschsprachigen Ländern funktioniert, aber nicht in den italienischsprachigen und umgekehrt?
Das ist eine schwierige Frage. Es sind nicht so sehr die Themen, denn diese können universell sein – der Tod, die Liebe usw. –, als vielmehr die Perspektive. Sowohl die Deutschen als auch die Italiener sind amerikafreundlich eingestellt, sie suchen also Geschichten, die aus diesem Kulturkreis kommen. Leider gibt es dagegen viel weniger Interesse für Bücher aus Regionen, die auch näher liegen – die arabischen Länder, aber auch Osteuropa –, oder aus Ländern in Randlage wie Portugal. Man schaue sich nur einmal die Statistik der Übersetzungen an: Fast achtzig Prozent kommen aus dem Englischen, aus dem Chinesischen dagegen, das an zweiter Stelle unter den am häufigsten gesprochenen Sprachen der Welt steht, nur ein paar Dutzend Bücher. So wurde zum Beispiel Pão de Açucar von Afonso Reis Cabral, das den Saramago-Preis gewann, nicht ins Italienische übersetzt, während Bücher wie die des Libanesen Amin Maloouf in Italien präsenter sind als in Deutschland.
Gibt es ein Buch, das Sie gerne veröffentlicht hätten, das aber von einem anderen Verlag herausgegeben wurde?
Da gibt es viele. Patria von Fernando Aramburu zum Beispiel, oder Morgen und Abend von Jan Fosse. Immer wenn ich sehe, dass ein Verlag ein wertvolles Buch veröffentlicht, beneide ich ihn.