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10 November 2023

Auf dem Weg nach Frankfurt 2024
Interview mit der Schriftstellerin Giulia Caminito

Autor: Maddalena Fingerle

Auf dem Weg nach Frankfurt 2024 <br>Interview mit der Schriftstellerin Giulia Caminito

Giulia Caminito (1988) lebt und arbeitet in Rom. Nach ihrem Studium der politischen Philosophie debütierte sie 2016 mit La grande A, erschienen bei Giunti, das mit dem Bagutta Opera Prima Preis, dem Berto Preis und dem Brancati Giovani Preis ausgezeichnet wurde. 2018 kehrt die Autorin mit Ein Tag wird kommen zurück, das bei Bompiani erschienen ist und mit dem Premio Fiesole Under 40 ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2021 veröffentlichte sie Das Wasser des Sees ist niemals süß, das mit dem Premio Campiello ausgezeichnet wurde und die Endrunde des Premio Strega erreichte. Caminitos Bücher sind in über zwanzig Länder übersetzt worden. Auf Deutsch erschienen 2020 Ein Tag wird kommen und 2022 Das Wasser des Sees ist niemals süß, beide im Wagenbach Verlag. Im deutschsprachigen Raum sind diese beiden von Barbara Kleiner übersetzten Romane ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik, so dass Giulia Caminito von Karen Krüger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als erfolgreichste italienische Schriftstellerin ihrer Generation bezeichnet wird.

 

 

Wann und wie haben Sie mit dem Schreiben begonnen?

 

Richtig und intensiv habe ich in meiner Studienzeit begonnen, etwa im Alter von zwanzig Jahren. Damals habe ich mich mit großer Hingabe der Philosophie gewidmet, die akademischen Texte waren komplex und die Prüfungen zahlreich. Ich habe in der Provinz gelebt, wo es im Winter fast nichts zu tun gab und ich bin nie gerne spät abends ausgegangen. Meine Interessen waren schon immer die eines Nerds: Lesen, Videospiele, DIY-Grafik. Dann entdeckte ich, dass ich gerne schreibe, dass ich mich in das Schreiben vertiefen und stundenlang an meinen Geschichten arbeiten konnte. Von da an hörte ich nicht mehr auf, es war eine Ablenkung von den Schwierigkeiten meines Studiums, von den großen Themen und Gedanken, mit denen ich mich beschäftigte und den Texten mit denen ich mich konfrontierte. Durch das Schreiben konnte ich mich von allem anderen ablenken.

 

 

Wie sieht Ihr typischer Tag aus (falls es einen solchen gibt)?

 

Das kommt darauf an. Normalerweise widme ich mich morgens der Beantwortung von E-Mails, Telefonaten und Geschäftsterminen, nachmittags schreibe ich, lese oder bereite Materialien für Reden und Vorträge vor, abends halte ich oft Schreib- oder Publishingkurse. Wenn ich nicht zu Hause bin, sondern unterwegs zu Konferenzen, Festivals oder Buchpromotionen, fahre ich in der Regel morgens mit dem Zug oder dem Flugzeug los, komme an, richte mich ein und gehe die Notizen durch, die ich mir für die Treffen gemacht habe, gehe dann zur Präsentation und führe danach einige Interviews, esse mit den Organisatoren und kehre ziemlich müde in mein Hotel zurück. Natürlich habe ich auch ein Privatleben, aber sagen wir einfach, dass ich nie völlig freie Tage habe. Selbst wenn ich abends ausgehe und zurückkomme, arbeite ich bis spät in die Nacht, wenn ich eine Abgabe, ein Lektorat, eine Überarbeitung, eine Lesung oder einen Artikel habe, der bald verschickt werden muss.

 

 

Ich weiß, es ist eine banale Frage, aber ich weiß auch, dass die Antwort nicht banal sein wird: Warum schreiben Sie?

 

Weil ich als Kind gern Geschichten erzählt habe, und zwar in meinem Kopf vor dem Schlafengehen oder im Flüsterton, während ich mit Stofftieren und Puppen spielte. Ich kann einfach nicht aufhören, Geschichten zu erfinden, und das Schreiben erfüllt dieses Bedürfnis, dieses ständige Verlangen, Figuren, Handlungen, Schauplätze und Dialoge zusammenzustellen. Das Schicksal eines jeden Wortes, eines jeden verzweifelten oder freudigen Moments zu bestimmen, die aufsteigende oder absteigende Parabel des Lebens, das Scheitern, die Verluste oder den Gegenangriff festzulegen. Nur das Schreiben bietet einem diese Möglichkeit.

 

 

Lesen Sie auch zum Vergnügen?

 

Ja, ich versuche, mir die Zeit zu nehmen, um rein aus Spaß zu lesen, aber das ist nicht leicht. Es gibt Monate, in denen ich viel für die Arbeit lesen muss, und es ist mir nicht möglich, auch noch meine eigene Lektüre auszuwählen, und manchmal ist es frustrierend, dass ich mit all den Büchern, die ich gerne lesen würde, im Rückstand bin.

 

 

Welche Autorinnen und Autoren haben Sie geprägt?

 

Da gibt es viele. Während meiner Studienzeit war der Autor, der mich am meisten fasziniert hat, Montaigne, aber auch Damasio und Braidotti. Die Vorlesungen von Kojeve über Hegel gehörten zu den Lektüren und Studien, die mich am meisten geprägt haben. Dann kam die Phase der ersten Romanlektüren und ich lernte Dave Eggers Schreibstil kennen, von dem ich viel gelernt habe. Von da an habe ich viele weitere Romane gelesen, bis ich das Italien des 20. Jahrhunderts mit seinen zahlreichen Schriftstellerinnen entdeckte, deren Erzählungen mich am meisten beeinflusst haben. Ich weiß, es klingt banal, aber es war für mich nicht selbstverständlich, dass es auch Frauen gab, die über bestimmte Aspekte der Gesellschaft berichten. Das Leben und Schreiben von zwei Autorinnen war für mich besonders wichtig, und ich zitiere sie oft, auch weil sie wenig bekannt sind: Laudomia Bonanni und Livia De Stefani.

 

 

Das ist ganz und gar nicht banal.
Erinnern Sie sich an den Moment, als sich Ihr Weg mit dem deutschen Verlagswesen kreuzte?

 

Es geschah mit meinem Roman Un giorno verrà, der vom Wagenbach Verlag in Berlin gekauft wurde. Ich war sofort begeistert von der Idee, in den Katalog eines so angesehenen Verlags aufgenommen zu werden, der eine lange Geschichte hat und in dem es viele wichtige italienische Autoren und Autorinnen gibt. Kurz darauf war ich zum ersten Mal in Berlin und habe den Verlag besucht, ich habe den Direktor persönlich getroffen, meinen Lektor, es war eine prägende und sehr bereichernde Erfahrung.

 

 

Wie ist Ihre Beziehung zu der Übersetzerin, der sehr talentierten Barbara Kleiner? Habt ihr euch getroffen, habt ihr über den Text gesprochen?

 

Barbara kam vor ein paar Jahren nach Italien, um den Schauplatz von L’acqua del lago non è mai dolce zu erkunden. Wir haben Anguillara, das Dorf am See, in dem der Roman spielt, besichtigt, Fisch gegessen und uns unterhalten. Zudem ist unser Briefwechsel ist sehr rege. Sie stellt mir immer viele Fragen zum Text, und mehrfach hat sie Ungereimtheiten oder Fehler in der italienischen Fassung gefunden, die wir in der deutschen Übersetzung korrigiert haben.

 

 

Ohne Welchen Eindruck haben Sie von der deutschen Verlagswelt gewonnen?

 

Ich hatte den Eindruck, dass man dort sehr aufmerksam und gewissenhaft ist und dass viele soziale und politische Aspekte des Schreibens berücksichtigt werden, dass man die Arbeit der Schriftstellerin sehr ernst nimmt und die verschiedenen Phasen der künstlerischen Produktion respektiert werden, vom Schreiben bis zur Vermarktung und Begegnung mit dem Publikum.

 

 

Glauben Sie, dass das deutschsprachige Publikum und die Kritiker Sie anders wahrnehmen als das italienischsprachige? Wenn ja, wie und warum?

 

Ich habe den Eindruck, dass es eine andere Form der Aufmerksamkeit gibt, ich bemerke oft eine unterschiedliche Neugier und andere Fragen, auch im Hinblick auf die Kritik habe ich den Eindruck, dass Einwände erhoben werden, die in Italien nicht zur Sprache kommen. In jedem Land, in das ich reise, gibt es unterschiedliche Überlegungen zu ein und demselben Buch. Im Ausland wird von Schriftstellern erwartet, dass sie ihre politischen Ideen darlegen, dass sie über aktuelle Ereignisse und ihr Land sprechen, auch bei öffentlichen Veranstaltungen. Ich habe den Eindruck, dass dies in Italien weniger der Fall ist.

 

 

Haben Sie jemals eine deutsche Lesung aus einem Ihrer Bücher gehören? Welchen Effekt hat das auf Sie gehabt?

 

Ja, das ist mir mehrmals passiert und dabei konnte ich einige Wörter auf Deutsch lernen. Da ich die italienische Version kannte, erkannte ich die Namen der Figuren, die Szenen, und ich konnte mich zurechtfinden. Bei einem Treffen habe ich, ohne es zu merken, angefangen zu nicken, weil ich einige Punkte verstanden habe und sie dachten, ich könnte auf Deutsch antworten, aber leider war das noch nicht der Fall. Sich selbst in einer anderen Sprache zu hören, ist immer befremdlich, denke ich. Für mich ist es jedes Mal unglaublich, wenn es passiert.

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