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18 September 2024

Aus Berlin: ein Interview mit Susanne Schüssler
(Verlag Klaus Wagenbach)

Autor: Maria Carolina Foi, Universität von Trieste

Aus Berlin: ein Interview mit Susanne Schüssler <br>(Verlag Klaus Wagenbach)</br>

Susanne Schüssler begann 1991 ihre Tätigkeit im Verlag Klaus Wagenbach in Berlin. Seit 2002 ist sie zudem die Leiterin des Verlags und seit 2015 die alleinige Gesellschafterin. Sie studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaft und Verlagsrechte an der Ludwig-Maximilian-Universität München.

 

 

Der Verlag feiert 2024 seinen 60sten Geburtstag. Wann ist die Liebe von Klaus Wagenbach zu Italien entstanden?

 

Sehr früh und aus zwei Gründen. Italien war ein Staat, der genau wie der deutsche von Faschismus geprägt war, der aber einen anderen Umgang mit dieser Vergangenheit hatte. Der zweite Grund war die Kunstgeschichte. Er ist als Student mit dem Fahrrad von Frankfurt bis nach Paestum geradelt und hat angefangen, eigentlich auf der Straße Italienisch zu lernen. Später, als Mitglied der Gruppe 47, wurde er vom Gruppo 63 eingeladen und hat viele Autoren kennengelernt, auch den Verleger Giangiacomo Feltrinelli. Das hat seine Neugier an Italien bestärkt.

 

 

Wagenbach gilt als die beste Adresse für die italienische Literatur in Deutschland. Was hält so grundverschiedene Schriftsteller wie Manganelli und Pasolini oder Wissenschaftler wie Settis und Ginzburg zusammen?

 

Diese unterschiedlichen Autoren haben mit den unterschiedlichen Interessen von Klaus zu tun. Das eine ist der kunst- und kulturgeschichtliche Zugang. Das andere ist das Interesse für hochartifizielle, experimentelle Literatur. Später kam die Frage des politischen Zugriffs: Pasolini und Bücher wie Die Schule von Barbiana, also politische Bücher. Das ist vielleicht gerade die Stärke des Verlags, früher war es jedoch nicht unproblematisch.

 

 

Wieso Stärke und Problem?

 

Der Verlag war nie rein politisch und nie rein literarisch, die beiden Interessen waren immer da. Aber es gab eine Zeit, in der die Linke den Verlag angegriffen hat als bürgerlichen literarischen Verlag, und das bürgerliche Lager fand, es sei ein grässlicher kommunistischer Verlag, was sich auch auf den Blick nach Italien bezog. Dieser doppelte Blick war aber zugleich die Garantie dafür, dass man offen war. Wir haben viele Autoren des Gruppo 63 publiziert: Celati, den ich für einen der großen Italiener halte, die ganze Gruppe um ihn herum, wie Cavazzoni und die Jüngeren um die Zeitschrift „Il semplice”, dann Malerba. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte es eine frühe Rezeption der italienischen Gegenwartsliteratur gegeben. Der Claassen und der Piper Verlag hatten relativ viele italienische Autoren um Bassani und Morante übersetzt. Dann ist Italien wieder ein bisschen verschwunden. Der erste riesige Erfolg war Pasolini mit den Freibeuterschriften 1979 bei Wagenbach. Sieben Verlage wollten das Buch übersetzen: ein Essayband mit Zeitungstexten, die nicht leicht zu lesen sind und in einem anderen Land gewisse Vorkenntnisse bedürfen! An einem gewissen Punkt war Klaus dran. Er konnte eine Auswahl machen, die Texte kommentieren und kürzen. Daraus entstand eine philologisch aufbereitete Ausgabe für den deutschen Markt. Das Buch erschien zu einem glücklichen Zeitpunkt, als in Deutschland plötzlich klar wurde, es gab eine alternative Linke, nämlich die Grünen. Die Freibeuterschriften, die über den Konsumismus und das Verschwinden der Glühwürmchen sprachen, nahmen sich im Grunde der Themen der Grünen an. Von da setze dann eine neue Rezeption der italienischen Literatur ein. Drei Jahre später kam Eco mit dem Namen der Rose, Italien war wieder präsent. Das war eine ganz interessante Entwicklung mit der Toskana-Fraktionsgeschichte und allen Deutschen, die nach Italien fahren wollten.

 

 

Wie sieht Italien bei Wagenbach aus?

 

Der Verlag hat eine List angewandt, weil – und das machen wir bis heute – eine ganze Reihe von Büchern erschienen sind, die es in Italien überhaupt nicht gibt. Wie präsentiere ich ein Land jemanden, der dorthin fährt und wenig bis gar nichts über das Land weiß? Wir haben im SALTO literarische Einladungen in bestimmte Städte publiziert. Dazu kommen Bändchen, die Fragen wie „Warum heißen in jeder Stadt die Hauptplätze Garibaldi?” nachgehen oder die Bedeutung der Gestik erklären. Literatur, Politik, Gesellschaft und Alltagskultur können nicht einfach voneinander losgelöst betrachtet werden. Oder z.B. als Berlusconi wiedergewählt wurde, habe ich ein Taschenbuch zusammengestellt mit Texten von Autoren zu Berlusconi. Von Camilleri bis Paolo Flores d’Arcais haben all diese Autoren versucht zu erklären, was in Italien passierte. So sind viele Bücher entstanden, die es in Italien nicht gab.

 

 

Anfang der 2000 Sie haben Sie die Programmverantwortung übernommen. Hat sich das Profil des Verlags dann verändert?

 

Mein Ziel war, erstens die AutorInnen zu verjüngen und zweitens mehr Frauen in den Verlag zu holen. Und das ist uns, glaube ich, gut gelungen. Drei Beispiele: Michela Murgia, Francesca Melandri und Giulia Caminito, die unterschiedlich sind, aber eine Sache gemeinsam haben, nämlich sie sind alle drei sehr literarisch und sehr politisch. Ich hatte eine Zeitlang das Gefühl, Italien wird literarisch langweilig, es gab viele, vor allem männliche junge Autoren, die nach der angloamerikanischen Literatur geschielt haben. Dann kam ein Buch wie Accabadora von Michela Murgia, die einen wesentlichen Punkt Italiens literarisch gefasst hat, nämlich den Zwiespalt zwischen dem modernen Leben und diesem archaischen Italien, was es ja auch noch gab. Und gefragt, ob das sich irgendwie verbinden ließ. Ein hochspannendes Buch, das auch in Deutschland einen großen Erfolg hatte. Eine großartige Autorin, dezidiert politisch bis zu ihrem frühen Tod.

 

 

Und Melandri?

 

Melandri schaut auf die Verdrängung der ganzen kolonialen, faschistischen Vergangenheit in unseren Gesellschaften, vor allem natürlich in Italien Alle ausser mir. Sie verzahnt das aktuelle Flüchtlingsproblem mit der kolonialen Vergangenheit und zeigt, wie das, was wir angerichtet und nicht verarbeitet haben, wieder zurückschlägt. Großartig, wie sie das macht! Nachdem wir anfangs das große Willkommensland waren, wurde auch bei uns die Frage gestellt „Wie schaffen wir das überhaupt?” Dann haben wir wahrgenommen, was im Mittelmeer passierte und wie die Leute dort ertrinken. In dem Moment erschien dieses Buch und plötzlich wurden die größeren Zusammenhänge erklärt. Deswegen stand Alle ausser mir wochenlang auf der Bestsellerliste, sodass wir innerhalb von einem halben Jahr 100.000 Hardcover verkauft haben.

 

 

Caminito?

Wieder was ganz anderes. Sie gehört zu dieser jungen Generation, die in einer anderen Zeit sozialisiert wurde, unter Berlusconi-Regierungen großgeworden ist. Meine Generation ist in einer Zeit aufgewachsen, als die Hoffnung greifbar war, dass alles besser wird, dass die Demokratie sich immer weiter durchsetzt, dass der Faschismus oder der Nationalsozialismus nie wieder kommen können… Diese jüngere Generation kennt diese Hoffnung nicht, hat einfach nur erlebt, wie die Gesellschaft in Klassen auseinanderfällt. Und das beschreibt Caminito unglaublich genau und mitleidlos in Das Wasser des Sees ist nicht mehr süss. Das ist die junge Generation, die ernüchtert ist oder immer nüchtern sein musste.

 

 

Was bedeuten heute die Klassiker für den Verlag?

 

Wenn man ein Land liebt, dann muss man das Land vorstellen, seine Literatur, aber auch die Politik und die Kunst. Was uns nicht so wahnsinnig interessiert, ist der 37. Krimi, ob der jetzt aus Palermo oder Venedig oder sonst irgendwo kommt, also Genre. Wir wollen Experimente, neue Erzählformen. Andererseits liegt es uns am Herzen, die großen Autoren präsent zu halten. Wir haben in preiswerten Taschenbuchausgaben eine veritable italienische Bibliothek des XX. Jahrhunderts, von Bassani über Natalia Ginzburg, eine meiner liebsten Autorinnen – bis Moravia, den ganzen Pasolini, Fenoglio, Gadda u.s.w. Manchmal müssen wir mal was neu übersetzen: Anna Leube hat Vergas Malavoglia neuübersetzt, vor kurzem ist eine Neuübersetzung von Morantes La Storia erschienen.

 

 

Ein unabhängiger Verlag für wildes Lesen, so lautet das Motto des Verlags. Was bedeutet das?

 

Früher hat es immer den Kanon gegeben und der musste präsent sein, erst dann gehörte man zur bürgerlich gebildeten Schicht. Irgendwann aber wurde dieser Kanon gestürzt. Es gibt heute keinen Kanon oder Gegenkanon mehr. Das heißt, du musst selber schauen, was du liest. Ob das die Schule war, ob das das Feuilleton war – alle Dinge, an denen man sich festhalten konnte, sind weg. Deswegen versuchen wir, diese wilden Leserinnen und Leser kriegen.

 

 

Was haben Sie zuletzt wild gelesen?

 

Also heute Morgen einen großen Text über Glühwürmchen. Das führt eigentlich genau dahin, wo ich gerne bin. Das führt einmal nach Italien, es führt aber auch weit bis in die Antike zurück und nach ganz Europa, und in die ökologische Frage und, und jetzt kommt das Tolle, das habe ich erst heute gelernt: Japan ist ein Land, in dem die Glühwürmchen eine riesengroße Rolle spielen, mehr noch als offensichtlich in Europa und darüber werden wir ein Buch machen. Das ist der ganze Bogen, bis zu Pasolini und bis nach Japan.

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