interviews
13 Oktober 2023

Interview mit Cristina De Stefano, Journalistin, Autorin und Literaturscout

Autor: Paolo Grossi

Interview mit Cristina De Stefano, Journalistin, Autorin und Literaturscout © Francesco Castaldo

Wie sind Sie dazu gekommen, als Scout zu arbeiten? Können Sie uns etwas über Ihre Arbeit erzählen (Ihre Beziehungen zu Agenten, Verlegern, usw.)?

 

Durch Zufall, wie so oft im Leben. Ich war Journalistin bei Elle (italienische Ausgabe) und bin meinem Mann gefolgt, der eine Arbeit in Paris gefunden hatte. Dort war ich weiterhin als Journalistin und Biografin tätig. Eines Tages fragte mich ein italienischer Verlag, Rizzoli, ob ich für ihn als Scout tätig werden wolle, da die bisher zuständige Person in den Ruhestand ging. Ich hatte bis dahin noch nie von diesem Beruf gehört, aber meine Neugier war geweckt und er gefiel mir auf Anhieb. Ich bin wettbewerbsorientiert und lese gerne, also war ich wie geschaffen für diese Rolle. Seit diesem ersten Anlauf im Jahr 2004 sind weitere Kunden in 15 Ländern dazugekommen, wie z.B. in den USA und im Vereinigten Königreich. Dazu kommen noch die Kunden aus der Filmindustrie, darunter Netflix, was mir die Gründung einer Agentur ermöglichte, in der drei weitere Personen Vollzeit arbeiten. Meine Aufgabe als Scout – für den französischen und italienischen Markt – besteht darin, den Markt im Auge zu behalten, alle Bücher zu lesen, die in den beiden Ländern veröffentlicht werden sollen, und ihr Verkaufspotenzial in der Übersetzung in andere Sprachen einzuschätzen. Ich erhalte PDF-Dateien von Agenten und Verlegern, erstelle Leseproben für meine ausländischen Kunden und berate Film- und Fernsehproduzenten bei der Adaption eines Romans. Es ist ein sehr dynamischer Job, man kommt nie zur Ruhe, ein zukünftiger Bestseller kann mitten im Sommer oder an einem Freitagabend zur Leseprobe eintreffen. Dann muss man vor den anderen Scouts zur Stelle sein und ihn lesen.

 

 

Gibt es unter Ihren „Entdeckungen“ als Literaturscout welche, die für Sie besonders wichtig waren?

 

Das Buch, das mich bekannt gemacht hat, war zweifelsohne La Verité sur l’Affaire Harry Quebert von Joël Dicker. Ich erkannte sofort sein enormes Potenzial, lange bevor es veröffentlicht wurde: Ich habe eine Nacht damit verbracht, es zu lesen, und am nächsten Morgen rief ich, noch im Schlafanzug, meine ausländischen Kunden an. Diejenigen, die mir vertrauten, haben den Roman noch immer in ihrem Katalog: Er ist eine der meistverkauften Übersetzungen in der Geschichte der zeitgenössischen französischen Belletristik. In Italien hatte ich die gleiche Intuition bei Le otto montagne von Paolo Cognetti, der in Italien und in der Übersetzung ein großer Erfolg war und von dem ein bedeutender Film gedreht wurde, der letztes Jahr in Cannes vorgestellt wurde. Aber die Liste der Autoren, die ich in beiden Sprachen entdeckt habe, ist noch viel länger. In Italien war ich eine der ersten, die das Potenzial von Viola Ardone, Rosella Postorino, Luca d’Andrea und Sandrone Dazieri erkannt hat. In Frankreich habe ich Leila Slimani und Hervé Le Tellier lange vor dem Goncourt entdeckt, und auch das Potenzial von Melissa da Costa gesehen, als sie noch nicht zu den zehn meistverkauften Autorinnen des Landes gehörte. Aber seltsamerweise war einer der größten Bestseller, den ich entdeckt habe, ein Roman, den ich nicht gelesen hatte, weil er auf Japanisch geschrieben war. Das Thema – eine Katze, die beschließt, jeden Tag in die Wohnung eines Paares zu kommen – faszinierte mich, und ich erzählte einem meiner englischen Kunden davon: The Guest Cat war in der Übersetzung ein großer Erfolg.

 

 

Welche Einschätzung des italienischen Verlagssystems bezüglich einer europäischen Perspektive können Sie aufgrund Ihrer internationalen Kenntnisse der Buchwelt geben?

 

Italien ist eines der reaktionsfreudigsten Länder auf dem Markt der Übersetzungsrechte und die Vergabe derselben wird sehr hart umkämpft. Es ist ein Land, das wenig liest, aber viel veröffentlicht (und übersetzt). Die gute Nachricht ist, dass Italien eine sehr positive Saison erlebt, die mit dem Welterfolg von Elena Ferrante begann, aber weit darüber hinausgeht: Thriller, Wohlfühlkrimis, historische Sagen, Frauenromane – italienische Bücher sind im Ausland beliebt und überraschen oft auf Messen in London oder Frankfurt. Das italienische Verlagssystem zeichnet sich durch eine große Zahl kleiner Verlage aus, die sehr dynamisch neue Titel auswählen, und auch durch Literaturagenten, die Autoren entdecken und diese fördern. Im Vergleich zur Zeit vor zehn Jahren habe ich festgestellt, dass die Hälfte meiner Verträge italienische Bücher betreffen, während früher Frankreich vorherrschend war.

 

 

Der Erfolg eines Schriftstellers in seinem Heimatland schlägt sich nicht sofort in einem Erfolg im Ausland nieder. Welcher „Typ“ von Schriftsteller verkauft sich im Ausland gut? Derjenige, der stärker von seiner nationalen Herkunft geprägt ist (also der „italienischere“) oder der internationalere?

 

Dies ist eines der Rätsel des Verlagswesens und der Grund, warum es ein so faszinierender Beruf ist. Man kann den Erfolg einer Übersetzung nicht vorhersagen. Es gibt Autoren, die sich in ihrem Heimatland gut verkaufen und anderswo nicht, oder nur in bestimmten Ländern. Es gibt keine Spielregeln. Warum hat Joël Dicker mit einem Kriminalroman, der in den Vereinigten Staaten spielt, einen durchschlagenden Erfolg gehabt? Warum verkauft sich Bernard Werber haufenweise in Japan und in Italien nicht? Warum ist ein Bestseller wie Valérie Perrins Changer l’eau des fleurs in Italien ein Riesenerfolg, aber nicht in Deutschland oder Spanien? Und wie steht es mit der Familiensaga der Florios von Stefania Auci, einem Bestseller in Italien (und in Frankreich, bei meinem Kunden), die sich aber in anderen Ländern nur wenig verkauft hat? Warum war Acht Berge in Holland, wo es keinen einzigen Berg gibt, so erfolgreich? Meine Arbeit gleicht der eines Pokerspielers. Man muss eine Geschichte ‚fühlen‘, ihre Kraft, ihre Figuren. Nur das zählt. Der Rest besteht aus Theorie und Mode, aber das ist keine Garantie für den Erfolg.

 

 

Achten Sie besonders auf Literaturpreise für unveröffentlichte Werke (wie den Calvino-Preis in Italien) oder auf Festivals für Erstlingsromane (Laval, Chambéry, Cuneo, usw.)?

 

Ich verfolge den Calvino-Preis, um neue Stimmen zu entdecken, aber nicht die Festivals. Seit einiger Zeit beobachte ich die Abschlusstage der Holden School in Turin, die Jahr für Jahr erfolgreiche Autoren hervorbringt: Beatrice Salvioni und Monica Acito, um nur zwei neue Autorinnen zu nennen, die kürzlich in Italien veröffentlicht haben. Ich folge auch den sozialen Medien in beiden Ländern. Aber im Allgemeinen ist die Quelle für Manuskripte immer ein Agent oder ein Verleger, der sich entschlossen hat, ein Buch auf den Markt zu bringen und mir die PDF-Datei zur Bewertung schickt. Was die französischen Preise betrifft, so ist der Goncourt der einzige maßgebende Preis auf dem ausländischen Markt.

 

 

Wenn das Lesen zu einer beruflichen Tätigkeit wird, wie viel Zeit bleibt dann noch für das freie Vergnügen des Lesens und/oder Wiederlesens?

 

Sehr wenig Zeit, aber das ist – neben der Verschlechterung meiner Sehkraft durch das Lesen auf Tablets – der einzige negative Aspekt meines Berufs, den ich liebe. In meiner Freizeit lese ich Geschichtsbücher, vor allem die Geschichte der Religionen, ein Genre, mit dem ich in meinem Beruf als Scout nicht oft in Berührung komme. Ich hebe sie mir für den Abend auf, ein paar Seiten vor dem Schlafengehen, und vor allem für die 2-3 Wochen Urlaub im Sommer: das ist dann ein wahres Fest für mich. Dann lese ich nur, was ich will. Das Wiederlesen hingegen ist Teil meiner Arbeit, und ich lese ein Buch, das ich selbst auf den Markt gebracht habe, oft nach der Veröffentlichung erneut, um die Arbeit des Lektorats zu beurteilen.

Interview mit Cristina De Stefano, Journalistin, Autorin und Literaturscout
© Francesco Castaldo
treccani

REGISTRIERUNG IM TRECCANI-PORTAL

Um immer auf dem Laufenden zu bleiben, was newitalianbooks betrifft