Interview mit Paolo Primavera und Alice Rifelli, Edicola Edizioni/Edicola Ediciones
Autor: Laura Pugno
Im Rahmen der Interviewreihe, die newitalianbooks mit italienischen Verlagen führt, die über angeschlossene Unternehmen auch im Ausland tätig sind, treffen wir Edicola Edizioni/Edicola Ediciones, ein originelles, zwischen Italien und Lateinamerika angesiedeltes Verlagsunternehmen mit Sitz in Ortona. 2022 wurde Edicola eingeladen, an der 15. Folge von Alfabeto Italiano teilzunehmen, einem Podcast des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit, der im Hinblick auf die Frankfurter Messe 2024 als Reise in das zeitgenössische italienische Verlagswesen konzipiert ist. Dieses Jahr wurde der in den Abruzzen ansässige Verlag mit dem Nationalen Übersetzungspreis des Kulturministeriums ausgezeichnet.
Wie würden Sie den Lesern neuer italienischer Bücher im Ausland die Identität von Edicola Ediciones verständlich machen?
Alice Rifelli
Um über das Konzept der Identität nachzudenken, lasse ich mich von den Büchern von Cynthia Rimsky inspirieren, einer chilenischen Schriftstellerin mit argentinischen Wurzeln, deren Werke wir begonnen haben, ins Italienische zu übersetzen – beginnend mit Il futuro è un posto strano (Die Zukunft ist ein merkwürdiger Ort), Autostop per la rivoluzione (Autostopp für die Revolution) und Yomurí (Yamuri). Identität ist laut Rimsky ein vergängliches, fluktuierendes, sich ständig veränderndes Bild. Edicola Edizioni wurde 2013 in Chile gegründet und eröffnete zwei Jahre später einen Standort in Italien. Sie lebte mehrere Jahre zwischen den beiden Ländern und sammelte dabei die Einflüsse zweier Sprachen, zweier Kulturen, zweier Herangehensweisen an Literatur und zweier unterschiedlicher Verlagswelten.
In Santiago veröffentlichte sie die ersten Bücher, womit sie auf ein spezifisches Bedürfnis reagierte (die begrenzte Verfügbarkeit zeitgenössischer italienischer Bücher auf dem lateinamerikanischen Markt). Damit einhergehend wuchs in ihr das Bewusstsein, dass sie als eine Art Brücke fungieren könnte, als ein Terrain, auf dem sich nicht nur die geografischen Entfernungen verkürzen.
Heute ist Edicola ein unabhängiger Verlag, der Bücher von Autoren aus Lateinamerika in Italien und von Autoren aus Italien in Chile und Argentinien übersetzt, veröffentlicht und vertreibt. 2025 feiert der Verlag sein 10-jähriges Bestehen und vor einigen Monaten gewann er den Nationalen Übersetzungspreis des italienischen Kulturministeriums. Der Verlag hat fast 70 Titel im Katalog, richtet seinen Blick aber dennoch auf Veränderung, bzw. die Erweiterung seiner Identität. Eine Situation, die nicht zuletzt der Fähigkeit unserer Autorinnen und Autoren zu verdanken ist, stets die Grenzen unseres Denkens zu erweitern. Was den italienischen Katalog anbetrifft, denke ich an die literarischen Projekte von Andrès Montero (von dem wir nach Tony Nessuno (Tony Niemand) und La morte goccia a goccia (Tod Tropfen für Tropfen) im Herbst L’anno che abbiamo parlato con il mare) (Das Jahr, in dem wir mit dem Meer sprachen) veröffentlichen werden. Von Lola Larra lancierten wir (Sprinters (Sprinters) und A sud dell’Alameda (Südlich der Alameda) (ein Werk, dem wir den 2019 erhaltenen Andersen-Preis) verdanken. Von María José Ferrada veröffentlichten wir (Niños (Niños), Kramp (Kramp) und La casa sul cartello) (Das Haus auf dem Schild), von Alejandra Costamagna dagegen (Il sistema del tatto (Das System des Takts) und C’era una volta un passero) (Es war einmal ein Spatz). Nennenswert ist auch das Werk von Claudia Apablaza (Tutti pensano che sia un fachiro (Alle denken, ich wäre ein Fakir) und Storia della mia lingua) (Die Geschichte meiner Sprache) sowie das der bereits erwähnten Autorin Cynthia Rimsky. Ich denke in diesem Zusammenhang aber auch an die Wiederentdeckung der Werke von Pedro Lemebel, eine lateinamerikanische Ikone der Gesellschaftskritik, dessen Chronikensammlungen Di perle e cicatrici (Von Perlen und Narben) und Folle affanno (Verrückte Atemlosigkeit) sowie einzigartigen Irraccontabili (Unerzählbaren) Erzählungen.
Wenn wir über Grenzen sprechen wollen, kann man mit Recht sagen, dass Edicola dazu neigt, diese zu ignorieren. Nachdem die ersten Jahre ausschließlich der chilenischen Literatur gewidmet waren, begann sich unser Blick, auf die Erkundung neuer Gebiete zu richten. Ausgehend von Kolumbien (mit Orlando Echeverri Benedetti und María Ospina Pizano, Preis 2023 Sor Juana Inés de la Cruz, von der wir Gli azzardi del corpo (Die Gefahren des Körpers) übersetzten und deren neuem Buch, das 2025 veröffentlicht wird), über Argentinien (mit María Moreno, deren Werk L’atroce storia di Santos Godino (Die grausame Geschichte von Santos Godino) diesen Herbst erscheinen wird, eine Erzählung zwischen Fiktion und journalistischer Berichterstattung über die Ereignisse von Argentiniens berühmtestem Serienmörder) bis nach Italien (wobei wir insbesondere bei den Texten von Livio Santoro den Schwerpunkt auf Kurzform und sprachwissenschaftliche Forschung legen).
Was sind Ihre Eigenschaften und Stärken?
Paolo Primavera
Die Wurzeln des Verlags Edicola liegen in der Übersetzung, ein Mittel, das es uns ermöglicht, die Distanzen zwischen den beiden Ländern, in denen der Verlag entstanden ist und in denen er weiterhin veröffentlicht, zu verkürzen. Von dem Moment an, in dem wir beschlossen, einen Doppelkatalog zu erstellen, war uns klar, dass sowohl für uns als auch für die Übersetzer, mit denen wir zusammenarbeiten, die Kenntnis des Gebiets von wesentlicher Bedeutung sein würde und ein Wert, der den Unterschied unserer Texte ausmachen würde. Dies wird bei Übersetzungen ins Italienische noch deutlicher, da sich das Kastilische nicht nur von Region zu Region unterscheidet, sondern oft von Lokalismen oder tatsächlichen Parallelsprachen wie dem chilenischen coa oder dem argentinischen lunfardo begleitet wird.
Bezüglich der Themen unserer Titelauswahl ist es uns wichtig, auf die Vielfältigkeit der Unterschiedlichkeit und deren grundlegende Rolle in einer wahrhaft zeitgenössischen Gesellschaft zu achten. Wir geben unkonventionellen Geschichten, Minderheiten und dem Alltag eine Stimme.
Wir stellen uns unseren Katalog als eine Art Labyrinth vor, in dem jeder Titel den Leser an die Hand nimmt und ihn zu einem weiteren und von diesem zu noch einem anderen führt.
Wir haben großen Respekt vor unseren Lesern, die wir uns immer als neugierige Menschen vorstellen, die wissensdurstig und bereit sind, in ungewöhnliche Terrains einzutauchen. Große Aufmerksamkeit und Sorgfalt widmen wir dem Lektorat der Übersetzung und dem ästhetischen Aspekt des Buches. So vertrauen wir die Cover etablierten Illustratoren an und versuchen so weit wie möglich unabhängig von den Rhythmen zu arbeiten, die die Präsenz eines Verlag auf dem Markt üblicherweise regeln. Vermutlich ist dies auch die effektivste Art, die Umwelt zu schonen.
Welche literarischen und anderen Buchvorschläge haben in Italien und/oder in Chile besser funktioniert und warum, deiner Meinung nach?
Paolo Primavera
Die größte Herausforderung, und das gilt für beide Gebiete, in denen wir arbeiten, besteht darin, jedem Buch ein möglichst langes Leben zu geben und ihm auch nach den kanonischen drei Monaten, in denen einem Titel üblicherweise die volle Aufmerksamkeit des Marktes gilt, um sich dann der Aufmerksamkeit der Leser zu entziehen, weiterhin Zeit, Sorgfalt und Leidenschaft zu schenken.
Ich denke da zum Beispiel an die Reihe zeitgenössischer Lyrik, die wir in Chile veröffentlichen, in der wir ausschließlich Frauenstimmen sammeln und die uns auch nach Jahren noch unvorstellbare Befriedigung bereitet. Oder an Nieve, perro, pie von Claudio Morandini, ein Werk das viele Leser wegen seines eleganten Erzählstils fasziniert hat und wahrscheinlich auch, weil erkannt wurde, dass die Einsamkeit Adelmo Farandolas sehr ähnlich ist mit der, die man empfindet, wenn man in einer Metropole wie Santiago in Chile lebt. Oder an La maravillosa lampara de Paolo Lunare von Cristò und dessen Fähigkeit, dem Konzept der Wahrheit ins Auge zu blicken, das die Lebenden erst nach dem Tod frei zum Ausdruck bringen können. An La madre de Eva von Silvia Ferreri die die chilenische Welle zur Verteidigung der LGBT+A-Rechte vorweggenommen hat, Antes que otros te lo digan von Marino Magliani, der das Thema Migration sehr tiefgreifend berührt, oder an Vinpeel de los horizontes von Peppe Millanta, eine zarte Einladung, dem Gesprächspartner zuzuhören, um das Wesentliche zu verstehen und sich gemeinsam auf eine Reise begeben zu können.