Verlage für Dichter –
Erster Teil
Autor: Maria Teresa Carbone
Maria Teresa Carbone schreibt über Verlagswesen, Literatur, Fotografie und Kino, hält Kurse über Journalismus an der Universität Roma Tre und an der UCEAP (University of California Education Abroad Program) und engagiert sich in der Leseerziehung. Sie hat die Redaktion von Alfabeta2 koordiniert, den Kunstteil von Pagina99 redigiert und am Kulturteil von Manifesto mitgearbeitet. Ihre jüngsten Bücher sind Che ci faccio qui? Scrittrici e scrittori nell’era della postfotografia (Italo Svevo 2022) und der Gedichtband Calendiario (Aragno 2020). Darüber hinaus hat sie auch Werke von Joseph Conrad, Ngugi wa Thiong’o, Jean Baudrillard und Virginie Despentes übersetzt.
Fast fünfzig Jahre sind vergangen, seit der Kritiker Alfonso Berardinelli 1975 die italienische Poesie als „explodierten Stern“ bezeichnete, als eine Myriade von Splittern, die in tausend verschiedene Richtungen fliegen. Ein halbes Jahrhundert später ist diese Definition nach Ansicht eines anderen Kritikers der nächsten Generation, Gianluigi Simonetti, immer noch gültig: In seinem Essay La letteratura circostante (Il Mulino 2018) schreibt Simonetti, dass dieses Bild „die gegenwärtige Situation ebenso gut beschreibt wie die der frühen 70er Jahre, für die es ursprünglich gedacht war“.
Wenn aber die zeitgenössische italienische Poesie durch eine chaotische und zugleich vitale Zersplitterung gekennzeichnet ist, was können dann die Verlage tun, um sich in diesem bewegten Raum zu orientieren und hervorzutreten? Welche Rolle spielt das allgegenwärtige Universum des Internets? Und schließlich oder vor allem: Bleibt die Poesie das Aschenputtel des Verlagswesens, wie so viele in Italien (und dem Rest der Welt) denken, oder ist die Zeit vorbei, in der das alte Motto „alle schreiben Gedichte, aber keiner liest sie“ galt?
Zumindest vordergründig pessimistisch ist eine der Persönlichkeiten, die am meisten zur Verbreitung der Poesie in Italien beigetragen hat: Nicola Crocetti, Gründer des gleichnamigen Verlags (seit 2020 Teil der Feltrinelli-Gruppe) und seit 1988 Gründer und Leiter der Zeitschrift Poesia. In der Einleitung zu Dimmi un verso anima mia, der kürzlich erschienenen „antologia della poesia universale“, die er zusammen mit Davide Brullo herausgegeben hat, schreibt Crocetti tatsächlich, dass die Poesie „vor der Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dieser Kunstform geschützt werden muss“. Aber der Herausgeber bestätigt wiederum, wenn auch indirekt, dass nicht nur Gleichgültigkeit vorherrscht, wenn er an die Langlebigkeit seiner Zeitschrift erinnert, in der „in den 35 Jahren ihres Bestehens 60.000 Gedichte von 4.000 Dichtern aus vierzig Sprachen veröffentlicht wurden“.
Und eine weitere Bestätigung dafür, dass im neuen Jahrtausend die Aufmerksamkeit für die älteste literarische Form oft größer als angenommen ist, zeigt die erste Ausgabe des Lyrikpreises premio Strega Poesia, der seit dem Jahr 2023 den 1947 nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufenen historischen Literaturpreis vervollständigt. Über einhundert Verlage aller Größenordnungen haben ihre Texte für die erste Auswahlrunde eingesandt, und „die Live-Übertragung des Abschlussabends Ende Oktober war mit mehreren tausend Aufrufen das meistgesehene Ereignis des Jahres auf unserem YouTube-Kanal“, freut sich Giovanni Solimine, Präsident der Fondazione Bellonci, die den Strega-Preis organisiert.
„Schließlich“, fügt Solimine hinzu, „war das Ziel genau das: ein breiteres Publikum und vor allem auch junge Leute zu erreichen. Und ich würde sagen, dass wir damit ins Schwarze getroffen haben, denn die Resonanz war sehr positiv: An allen Orten, an denen die Treffen mit den Finalisten stattfanden, von Pordenone bis Florenz, von L’Aquila bis Marsala, war die Teilnahme enthusiastisch“.
Aber was sagen die Verleger dazu? Kann die Beteiligung am größten italienischen Literaturpreis wirklich einen spürbaren Einfluss auf die „Nische“ der Lyrik haben? Mauro Bersani, Leiter der “bianca” Einaudi Reihe, die 1964 auf Anregung des Slawisten und Dichters Angelo Maria Ripellino gegründet wurde und lange Zeit – neben Specchio Mondadori – als die wichtigste Lyrikreihe Italiens galt, ist davon überzeugt: Laut Bersani, der Le campane von Silvia Bre (ausgewählt unter den fünf Finalisten) zum Strega Poesia 2023 brachte, „waren die Auswirkungen auf den Verkauf der Dichter, die es auf die Shortlist geschafft haben, positiv. Auch auf der Grundlage eines Vergleichs mit einigen Kollegen aus anderen Verlagen würde ich sagen, dass wir bei den Titeln der fünf Finalisten im Durchschnitt einen Verkaufsanstieg von 50 % verzeichnen können. Natürlich sind die Zahlen nicht die der Romane, aber es ist klar, dass das Echo auf den Preis gut war und dazu beigetragen hat, die Lektüre von Lyrik zu verbreiten“.
So Maurizio Cucchi, langjähriger Berater von Mondadori für Lo Specchio, die Reihe, in der die Namen von Eugenio Montale, Andrea Zanzotto, Franco Fortini und vielen anderen vertreten sind, und in der die Gedichtsammlung der Gewinnerin der ersten Ausgabe des Strega Poesia Preises L’amore da vecchia von Vivian Lamarque veröffentlicht wurde: „Die Schaffung des Preises wird sicherlich dazu beitragen, die Autoren bekannt zu machen und die Aufmerksamkeit des Publikums zu wecken“, auch wenn – wie Cucchi betont – „die Live-Übertragung des Preisverleihungsabends per Streaming und nicht im Fernsehen übertragen wurde“.
Eine Aufforderung für das nächste Jahr? Vielleicht, aber in der Zwischenzeit schließt eine positive Bewertung des noch jungen Preises auch jüngere Verlagsreihen ein, deren Titel es nicht auf die Liste der fünf Finalisten geschafft haben. „Auf einem so kleinen und zersplitterten Markt ist jedes Mosaiksteinchen gesund“, sagt Agnese Manni, Redaktionsleiterin des Mitte der 80er Jahre von ihrem Vater in Lecce gegründeten Verlags casa editrice, während Marco Giovenale, der die Lyrikveröffentlichungen des kleinen und experimentellen Verlags Ikonaliber betreut, den Zugwert der Organisationsmaschine Strega hervorhebt: „Radiosendungen, Zeitungsartikel, Interviews: Es ist schwer vorstellbar, dass all dies nicht sowohl die Anzahl der zukünftigen Verlagsangebote als auch die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums als dem, das normalerweise die Lyrikregale aufsucht, beeinflusst“.
Und wenn Gian Mario Villalta, Herausgeber der Reihen Gialla und Gialla Oro, die beide unter dem Dach des Festivals Pordenonelegge entstanden sind und in Zusammenarbeit mit Samuele Editore produziert werden, den Strega Preis für Lyrik „als bedeutendes Zeichen für zukünftiges Engagement“ sieht, so ist für Maria Grazia Calandrone, die zusammen mit Andrea Cortellessa und Laura Pugno die Reihe “i domani” des Turiner Verlags Aragno herausgibt, damit „ein Spotlight auf das geworfen worden, was sich bisher immer damit brüstete, nicht auf dem Markt zu sein, nämlich die Poesie“. Und nicht nur das: Calandrone ist sich sicher, dass der Preis „dazu beitragen wird, das ewige Vorurteil der Langeweile zu überwinden, das die meisten von uns leider mit der Poesie verbinden, die auch aufgrund der unnötigen Zerlegung entstanden sein mag, mit der Schulen an poetische Texte herangehen, anstatt sie als lebendige Materie anzubieten, die uns betrifft“.
Dennoch kann die Schule ein privilegierter Ort der Begegnung mit der Poesie sein. „Wenn man heute einem Siebzehnjährigen vermitteln will, was der Erste und der Zweite Weltkrieg bedeuteten, liest man Il porto sepolto von Ungaretti und Diario d’Algeria von Sereni“, meint Franco Buffoni, Herausgeber der Reihe LyraGiovani für Interlinea, der mit seinen Anfang der 90er Jahre ins Leben gerufenen Quaderni italiani di poesia, die jetzt im Jahr 2023 in der sechzehnten Ausgabe für Marcos y Marcos erscheinen, stets auf der Suche nach neuen Autoren ist. Bezüglich des Strega-Effekts zeigt sich Buffoni vorsichtig („es ist zu früh, um darüber zu sprechen“), aber er ist überzeugt, dass „die Poesie auf lange Sicht immer gewinnt. Und das liegt daran, dass Literatur auf drei Beinen steht: der Autor mit seinem persönlichen Prestige, der Verleger mit seiner Macht, der Markt, der über den Verkaufserfolg entscheidet. Bei der Lyrik fehlt das dritte Bein. Entweder man setzt jetzt also auf Lyrikpreise oder man widmet sich den Jugendlichen, dazu muss allerdings ernsthaft gelesen werden und vor allem müssen viel Zeit und ein entsprechendes kritisches Instrumentarium zur Verfügung stehen“.
Diego Bertelli, zusammen mit Raoul Bruni Herausgeber der Lyrikreihe Novecento/Duemila des Florentiner Verlags Le Lettere, sieht das nicht anders: „Zum Glück wissen wir, dass der Wert eines Buches nicht nur durch einen Literaturpreis bestimmt wird. Im Gegenteil, es wäre frustrierend zu glauben, dass mehr geschrieben und veröffentlicht wird, weil es neue Preise gibt. Schon heute herrscht in Italien kein Mangel an Lyrikangeboten. Ebenso wenig mangelt es neben der Quantität auch nicht an konkret wahrnehmbarer Qualität. Und darauf kommt es an“.